Walter Heinisch ist Bergbauingenieur in einem oberschlesischen Bergwerk Dieses gilt als kriegswichtig, weshalb er kein Soldat ist. Als er am 16. Februar 1945 im Alter von 44 Jahren von der sowjetischen Besatzungsmacht in Gleiwitz interniert wird. Als Familienvater wird er getrennt von seiner Frau und den vier Kindern. Seine Erlebnisse hält er in einem kleinen Notizbuch fest. Kurz darauf, Mitte März, wird er mit Tausenden anderen deutschen Zivilisten als „lebende Reparationen“ in die Sowjetunion verschleppt.
„Die erste Nacht im Wagon war für mich unerträglich an Schmerzen“. Nach einer langen Reise in überfüllten Viehwaggons erwartet die Gefangenen ein Arbeitslager in der östlichen Ukraine. Walter Heinisch dokumentiert in seinem Tagebuch die unerträglichen Bedingungen, die er und die anderen Zwangsarbeiter erleiden müssen. Der tägliche Kampf um Nahrung, die harte Arbeit in den Bergwerken und auf den Kolchosen sowie das ständige Auftreten von Krankheiten prägen seinen Alltag. Mehr als die Hälfte der deutschen Zwangsarbeiter im Donbas überleben die unmenschlichen Bedingungen in den Arbeitslagern nicht.
Trotz des Leidens bleibt die Hoffnung auf eine Rückkehr nach Hause. Immer wieder schreibt er: „Unser allerletzter Blick und Gruß der scheidenden Sonne im Westen, geht sie doch in Richtung der Heimat unter. Gute Nacht.“ Er hofft, seine Familie wiederzusehen: „Ich bitte täglich den lieben Gott, er möge mir noch einmal die Gnade schenken, dich, liebe Mutti, und die Kinder wiederzusehen.“
Doch mit der Zeit schwindet diese Hoffnung. Am 15. August 1945 versucht Heinisch, aus dem Lager zu fliehen, wird jedoch gefasst. Seine Aufzeichnungen enden am 9. September 1945: „Die gleiche Arbeit und dieselbe Verpflegung. Sonst nichts Neues.“ Bis dahin hat er bereits 30 Kilogramm abgenommen. Am 5. Oktober 1945 stirbt Walter Heinisch im Alter von 44 Jahren im Lager Debalzewe.
Ein Mithäftling übergibt das Tagebuch zusammen mit der Nachricht von Heinischs Tod an seine Frau Helene. Gemeinsam mit ihren vier Kindern bleibt sie in ihrer Heimatstadt Gleiwitz, die nun zu Polen gehört. Zwischen 1978 und 1984 siedeln alle vier Kinder nach Deutschland aus.
Fast 80 Jahre später begibt sich Enkel Damian Heinisch auf die Spuren seines Großvaters. In der Ukraine, im Gebiet des Donbas, reist er zu den Orten, die Walter Heinisch in seinem Tagebuch beschrieben hat. Mit einer Plattenkamera, im historischen Autochrom-Verfahren, fängt er die Landschaften der Region ein. Der langsame Aufnahmeprozess spiegelt die Zeitlichkeit der durch Krieg, Zwangsarbeit und Schwerindustrie geprägten Gebirgslagen wider. Seit 2014 ist diese Region erneut von Krieg betroffen.
„Letztlich kam mein Großvater nicht zurück, aber dieses Tagebuch schon“, sagt Damian Heinisch heute. Für seine Bildserie „1.-51. Tagebuch Walter Heinisch“ (2021) hat er das Tagebuch seines Großvaters von Tagesanbruch bis Sonnenuntergang im Licht der norwegischen Sonne fotografiert. Das Notizbuch, das als eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der Zwangsarbeit in der Sowjetunion gilt, befindet sich heute im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung in Berlin.