Am 20. Januar 1945, mit 17 Jahren, muss Erna Holweg ihre Heimat in Ostpreußen verlassen. Zu dieser Zeit gibt es keine offizielle Fluchterlaubnis. Die NS-Behörden überlassen die Menschen sich selbst, und die Devise lautet: „Rette sich, wer kann.“ In dem Gutsdorf Truntlack im Kreis Gerdauen, wo Erna lebt, rechnet man schon seit Oktober 1944 mit einer Flucht, doch nun muss alles schnell gehen.
Flucht aus Ostpreußen
Das gesamte Dorf bricht mit 15 Pferdegespannen auf. Über Gerdauen und Schippenbeil führt der Weg Richtung Westen. Am 12. Februar erreichen sie das Frische Haff bei Alt Passarge. Immer wieder stauen sich die Fluchtkolonnen auf den überfüllten, vereisten Straßen. Der einzige Fluchtweg führt über das zugefrorene Frische Haff. Doch ständig werden die Fliehenden von sowjetischen Tieffliegern beschossen. Erna Holweg erinnert sich:
„Und dann, wie wir übers Eis gefahren sind, hat man gesehen, dass die Wagen eingebrochen waren. Die Pferde, ihre Köpfe guckten heraus. Und tote Menschen lagen daneben.“
Der Treck verbringt zwei Tage und eine Nacht auf dem gefrorenen Wasser des Frischen Haffs, bevor sie weiter auf die Frische Nehrung fahren. In der Nähe von Stutthof erleben sie einen weiteren Schock: Deutsche Jugendliche hängen an Bäumen, mit Schildern um den Hals, auf denen „Verräter“ steht. „Als wir das sahen, haben wir einen riesigen Schrecken bekommen“, erzählt Erna Stein, geborene Holweg, in einem Interview für das Dokumentationszentrum. Die Flucht geht weiter, und es gelingt der Gruppe, die Weichsel zu überqueren.
Zwischen Krieg und Frieden
Am 4. März erreichen sie ein Dorf in Westpreußen, doch der weitere Weg nach Westen ist bereits abgeschnitten. Fünf Tage später begegnen sie bereits erstmals sowjetischen Soldaten. „Sie haben uns zusammengetrieben und in eine Scheune gesperrt“, erinnert sich Erna an die Gewaltexzesse. Die Soldaten greifen willkürlich Flüchtlinge heraus. Ihre Schwester Frieda wird in einem Transport zur Zwangsarbeit nach Russland deportiert.
Am 12. März beschließen die verbliebenen Truntlacker, in ihre Heimat zurückzukehren. Auf dem entbehrungsreichen Rückweg erkrankt Erna an Typhus. Hunger ist ihr ständiger Begleiter.
Erst im September 1948 kann Erna Holweg aus dem sowjetisch besetzten Teil Ostpreußens entkommen. Während der ganzen Zeit bewahrt sie ein kleines Merkbuch über ihre Odyssee auf.
Nach der Umsiedlung 1948 beginnt die junge Frau ein neues Leben in Helmstedt unter sehr schwierigen Bedingungen. Sie findet mit ihrem Vater eine Unterkunft in einer Kellerwohnung, in der sie provisorisch leben. Erst ab den 1950er Jahren verbessert sich die Situation allmählich. Zusammen mit anderen Truntlackern fährt Erna Stein Jahrzehnte später regelmäßig in ihre alte Heimat Ostpreußen.