Flucht aus der Neumark

In der Neumark, dem Teil Brandenburgs östlich der Oder, untersagen die NS-Behörden noch am 31. Januar 1945 der Bevölkerung die Flucht.
In der Neumark, dem Teil Brandenburgs östlich der Oder, untersagen die NS-Behörden noch am 31. Januar 1945 der Bevölkerung die Flucht.© SFVV

Nach 500 Kilometern Vormarsch in nur drei Wochen erreicht die Rote Armee am 1. Februar 1945 die Oder bei Küstrin. Die Neumark, der Teil Brandenburgs östlich der Oder, wird weitgehend unvorbereitet getroffen. Die überraschten deutschen Verteidiger versuchen zur Oder zu entkommen. Es gibt keine Evakuierung der Bevölkerung, selbst Fluchtbewegungen untersagen die NS-Behörden.

Auch im Städtchen Neudamm, 17 Kilometer nordöstlich von Küstrin gelegen, beobachtet man die tagelang im dichten Schneetreiben nach Westen durchziehenden Flüchtlingstrecks. Noch am Nachmittag des 30. Januar 1945 weist der Bürgermeister an, dass kein Neudammer die Stadt verlassen darf, da keine Gefahr bestehe. Die 35-jährige Theodore Busse packt erst in der folgenden Nacht das Nötigste für sich, ihre 67-jährige Mutter und ihre kleinen Söhne Bernhard (5) und Eckhart (3). Doch am Mittag des 31. Januar erreichen sowjetische Panzer die Stadt, Straßenkämpfe beginnen. Großmutter, Mutter und die kleinen Jungen verbringen bange Stunden im Keller. Am späten Abend stürmen dutzende sowjetische Soldaten die Wohnung der Familie Busse. Wenngleich sie plündern, bleibt die kleine Familie unversehrt. Die Frauen entschließen sich am nächsten Morgen, das Durcheinander auf den Straßen zu nutzen und im Gefolge der weiterziehenden Kampftruppen bei 10 Grad minus jeweils mit einem Kind an der Hand die Stadt zu verlassen. Theodore Busse erinnert sich: „Unsere Ahnung hatte uns nicht getäuscht, denn die deutschen Frauen hatten in der folgenden Nacht ganz furchtbar unter den Russen zu leiden.“
Die Flüchtlinge müssen immer wieder Schutz in Kellern und Gräben vor Kampfhandlungen suchen, werden ausgeplündert, entkommen aber diesen bedrohlichen Begegnungen mit sowjetischen Soldaten. Sie schlagen sich sieben Tage lang rund 100 Kilometer nach Norden bis zur nächsten passierbaren Oderbrücke bei Greifenhagen durch. Westlich der Oder erreichen sie am 8. Februar in Tantow einen offenen Güterzug nach Berlin. Vom bereits schwer beschädigten Anhalter Bahnhof geht die Fahrt dann weiter zu Verwandten nach Halle an der Saale. Nach Kriegsende ziehen sie zu einer Tante nach Bielefeld, wo der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrende Fritz Busse seine Familie wiedertrifft.

Theodore Busse (1909-1997) schrieb ihre Erlebnisse bereits im Sommer 1946 auf. Über 40 Jahre später fuhr die Familie noch einmal mit dem Auto auf der Fluchtroute durch die Neumark aus dem heute polnischen Dębno (Neudamm) nach Tantow in der Uckermark.

Dr. Eckhard Busse übergab den Fluchtbericht 2017 seiner Mutter an die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung.